… ich habe sie nie gekannt, denn sie starb zwei Jahre vor meiner Geburt. Deshalb will ich heute einmal aufschreiben, was ich seit meiner Kindheit über sie erfahren habe.

Meine Groβmutter mütterlicherseits, Johanne Meyer wurde am 2. Dezember 1887 in Rathsdamnitz bei Stolp in Pommern geboren, als 3. Kind des Maria Heinrich August Meyer aus Köln und der Katharina Margarethe Sulzer aus Gauangelloch im Odenwald.

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Wie die Sulzers Gret, eine Metzger- und Wirtstochter aus Baden, und der Sohn einer groβbürgerlichen Kaufmannsfamilie aus dem rheinländisch-westfälischen Raum sich kennenlernten, weiβ ich nicht, die Geschichte dieser Ehe ist in “Sulzers Gret” nachzulesen.
Jedenfalls hat Johanne nicht viel über ihren Vater erzählt, kein Wunder, denn über den “August Maria” wurde in der Familie mehr getuschelt, als gesprochen. Diese Ehe wurde nämlich geschieden, und die Sulzers Gret hätte jeden erschlagen, der vor ihr diesen Ehemann erwähnt hätte.

Warum die Familie 1887 in Pommern war, ist leicht zu erraten: Der Meyer hatte wieder mal die Stellung gewechselt. Es muss seit der Heirat der x-te Arbeitsplatz gewesen sein.

Johanne, eigentlich: Auguste Ottilie Johanne, war nach ihrer Patin, des Vaters Schwester Auguste Ottilie MEYER, *1867 in Köln, benannt. Ottilie soll Erzieherin bei einer adligen Familie in der Schweiz gewesen sein. Sie soll dort einen Amerikaner kennengelernt, geheiratet und mit ihm nach Amerika gegangen sein: Ich weiβ nicht mehr über sie, alles ist unverbürgt.

 

Ottilie Meyer 1

 

Dieses Foto soll die Patin Ottilie Meyer darstellen.

Johanne hat von ihr (wieder mal angeblich!) zur Konfirmation (etwa 1901/02) einen silbernen, blau und türkis emaillierten Anhänger bekommen. Es gibt dieses Foto, wo Johanne ihn trägt: Ich habe ihn heute noch und trage ihn manchmal.

 MEYER Johanne mit Anhaenger vor WWI

Johanne mit dem Anhänger, aber schon älter als bei der Konfirmation.

 

 

Meine Mutter Elfriede hat immer erzählt, dass es in der Familie einen Hauslehrer gegeben haben soll. Wo aber die Hauslehrerepisode gespielt haben soll, ist rätselhaft. Papierfabriken lagen öfter etwas abseits von Dörfern und Kleinstädten, schon möglich, dass ein Schulbesuch nicht möglich war und daher die Lisl im Hause unterrichtet werden musste. Sie war aber erst etwa 1888 alt genug zum Lernen, Johanne ab 1893/94 – da war die Familie schon wieder zurück im Odenwald, jedenfalls die Mutter mit den drei Kindern (siehe Geschichte von „Sulzers Gret“).
1891 war in Copitz bei Pirna in Sachsen der kleine Bruder Maria Otto August auf die Welt gekommen.
Bald danach war die Ehe der Eltern total zerrüttet. August Maria hatte (angeblich!) mal wieder mit einer seiner ewigen Erfindungen sein ganzes Geld vertan, und wollte – laut meiner Mutter schon zum 3. Mal – rüber nach Amerika. Da hätte die Sulzers Gret gestreikt. Zweimal wäre er schon ohne Erfolg drüben gewesen, in ganz Deutschland war die Familie herumgezogen: Jetzt hätte sie genug gehabt.

Mutter und Kinder sind vermutlich schon 1893 nach Spechbach gezogen, wo die Schwester der Gret mit Sebastian Schleidt verheiratet war. Sie war krank und starb im März 1894. Der Schwager heiratete im Juni 1895 zum 2. Mal, die Gret wohnte dann als „Frau des Technikers August Meyer“ in Mannheim und hatte dort einen eigenen Familienbogen.
Das Anwesen der Schleidts in Spechbach lag etwas auβerhalb des Dorfes, das war vermutlich die Zeit, wo Johanne “durch den Wald” zur Schule ging.
Sie hatte damals ein zahmes Eichhörnchen und eine zahme Elster, die sie, auf ihren beiden Schultern sitzend, bis zum Waldrand begleiteten und nach dem Unterricht auch dort wieder erwarteten. Sie muss ein richtiger Wildfang gewesen sein, der auf Bäume kletterte und sich (unvermeidlich bei der damaligen Bekleidung!) Schürzen und Röcke zerriss.

Aber Johanne war nicht nur ein intelligentes Kind, sondern sie hatte auch zuzeiten das, was man gewöhnlich “das zweite Gesicht” nennt. In Spechbach hat Johanne eines Tages fest und steif behauptet, unter den Dielen eines bestimmten Zimmers läge ein Schatz: Sie habe das geträumt.
Als einige Jahre später die Dielen in diesem Raum erneuert wurden, hat man dort eine Reihe von Goldmünzen gefunden. Sie hat auch als junges Mädchen den Ausbruch des 1.Weltkrieges “geträumt” und das Jahr des Beginns genau vorausgesagt. Diese Seite ihrer Persönlichkeit hat sich wenigstens so viel auf meine Mutter und auf mich vererbt, dass mein Vater manchmal sagte, er lebe mit zwei Hexen. Na ja… Viel ausgeprägter ist diese Begabung bei Johannes zweitem Enkelkind, meiner Kusine Hannelotte. Sie bringt in dieser Hinsicht wirklich ganz erstaunliche Sachen fertig, denn ihre eigene Mutter war auch “so eine”, wenn sie es auch partout nicht wahrhaben wollte.

Die Ehe der Meyers ist erst 1902 geschieden worden, nachem der Meyer in Mannheim und an anderen Orten gearbeitet, für seine Familie jahrelang keinen Pfennig gezahlt und auch nicht bei ihnen gewohnt hatte. Laut Scheidungsurteil hatte er sich in Ettlingen, wo er auch (vermutlich in der Papierfabrik Buhl) gearbeitet hat, als Witwer ausgegeben! Im Herbst 1898 sei er in die Schweiz gereist, wie die Lisl im Scheidungsprozess zu Protokoll gegeben hat,
... und ward nie mehr gesehen...

Die Gret hat 1903 in Mannheim wieder geheiratet, einen ganz lieben Mann namens Andreas Schäfer, der für mich der einzige Urgroβvater wurde, den ich jemals gekannt habe. Die Jahre bis zu ihrer Wiederverheiratung müssen für sie und die Kinder hart gewesen sein. Wie hart ist ungewiss, jedenfalls kam Johanne mit 13 in eine Lehre als Handlungsgehilfin, Lisl ging im Sommer 1898 als Hausangestellte nach Heidelberg. Ihre polizeiliche Abmeldung aus Mannheim ist noch vorhanden.

Der Vater war seit Herbst 1898 so spurlos verschwunden, dass Sohn Otto als 20jähriger, vor der Meldung zum Wehrdienst, feststellen lassen musste, welcher Nationalität sein Vater eigentlich gewesen war. Dieser hatte, vor seiner Rückkehr nach Deutschland 1883, in Philadelphia angeblich einen Heimatschein erworben und sich nicht renaturalisieren lassen. Er hatte seine preussische Nationalität 1878 abgelegt und wollte in die Scheiz (damals schon!) auswandern. Otto wurde daher als staatenlos eingestuft und musste in Sachsen dienen, weil er dort geboren war. Im Februar 1914 klagte er während des Wehrdienstes über Schwindel und Fieber, sein Spieβ nannte ihn einen Simulanten und jagte ihn kreuz und quer über den Kasernenhof, bis er zusammenbrach. Er starb zwei Tage später an Lungenentzündung.

Johanne machte also in Mannheim eine Lehre als Bürokraft. Dazu gehörte damals schon die Beherrschung der Schreibmaschine und der Stenographie. Ich besitze noch Zeugnisse aus verschiedenen Betrieben, wo sie gearbeitet hat: Vom 2. Juli 1901 (Sie war 13!) bis 22. August 1905 machte sie “leichte Büroarbeiten” bei der “Kalk-, Gips- und Chamotte-Zeitung, Verlag Oskar Mokrauer-Mainé” und gegen Ende dieser Lehrzeit war sie gleichzeitig aushilfsweise als “Contoiristin” für einige Wochen bei “Felix Falk, Baumwollabfälle” tätig. Irgendwann danach kam sie als ausgebildete Handlungsgehilfin zur AEG in Mannheim, wo sie ein paar Jahre vor Beginn des 1.Weltkrieges ihren späteren Mann, den Elektromonteur Franz Joseph Lenz, kennen lernte. Johanne war damals mit einem anderen verlobt, aber die Sache ging (wegen meines späteren Groβvaters oder wegen des Krieges?) auseinander: Die Abschiedskarte des Verlobten an “seine teure Johanna” ist noch vorhanden.

Franz Joseph, genannt Sepp, wurde 1912 zum Wehrdienst eingezogen. Während seines zweiten Dienstjahres brach der 1. Weltkrieg aus. Sepp verbrachte den ganzen Krieg in steter Bewegung zwischen West- und Ostfront, mit seinen eigenen Worten: “…rauf und runter, per Bahn und zu Fuβ bis Kriegsende”.

Die beiden wollten im Mai 1916 anlässlich des ersten Heimaturlaubs heiraten. Bei der Suche nach den notwendigen Papieren wurde Johanne, im Gegensatz zu ihrem Bruder, die amerikanische Staatsangehörigkeit bescheinigt. Den Amerikanern war man zu diesem Zeitpunkt in Deutschland schon nicht mehr grün: Meine zukünftige Groβmama entkam nur knapp einer Internierung als “feindliche Ausländerin”.

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23.5.1916: Morgens ging man zum Standesamt...

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... und nachmittags zur kirchlichen evangelischen Trauung. Die Traubibel habe ich noch.

Johanne muss bei der AEG zu dieser Zeit Bürovorsteherin gewesen sein, denn es gibt Fotos aus dem Büro, wo sie als solche bezeichnet wird. Die Arbeitskleidung im Büro damals: Ein langes dunkles Kleid, oder ein langer Rock mit Bluse und eine weiβe Latzschürze mit Rüschen!

Auβerhalb des Büros war Johanne sehr elegant, auch noch als junge Frau. Sie war für ihre Zeit ziemlich groβ (1,68m), schlank, dunkeläugig, mit sehr hellem Teint und kastanienbraunen Haaren. Die damalige Mode stand ihr ausgezeichnet. Sie hatte ein ausgesprochenes Hutgesicht und einen sehr guten Geschmack, was die Zusammenstellung und den Schnitt ihrer Kleidung betraf. Alle, die sie kannten, haben ihre damenhafte Haltung erwähnt.

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Johanne (Mitte) mit zwei Kolleginnen

Die Geschwister Meyer waren alle drei schöne Menschen: Luise hatte als junges Mädchen ein eher volles Gesicht, mit den Zügen des Vaters, dunkle Augen und wunderschönes dunkelrotes Haar. Ich habe es als Kind noch gesehen: Es hatte sich zwischen ihrem Tod 1907 und der Auflösung des Grabes einige Jahrzehnte später sehr gut erhalten. Ihr Stiefvater Schäfer hat damals die Flechten in seinem Schreibtisch verwahrt, wo sie bis zu seinem Tode 1952 lagen. Otto war ebenfalls groβ und stattlich gebaut, sein Neffe Heinrich, mein Onkel, ähnelte ihm sehr. (Fotos in der Geschichte von Sulzers Gret)

Nach ihrer Heirat hat Johanne, wie üblich, gleich aufgehört zu arbeiten, verheiratete weibliche Angestellte waren im Allgemeinen unerwünscht und bedurften zudem der Genehmigung des Ehemannes. Sohn Heinrich kam im Januar 1917 als Siebenmonatskind zur Welt, in Mannheim, O7,4, wo das junge Paar bei Johannas Mutter und Stiefvater wohnte. Der kleine Heinrich war ein besonders schwächliches Kind, das dauernd mit dünner Stimme schrie und drei Monate ständig mit dem Kopf wackelte. Seine Stief-Groβtante, die verehelichte Schleidt, kam aus Spechbach zur Inspektion, und kommentierte nach ihrer Rückkehr: “Isch waas net, ob a noch lebt!” Das Siebenmonatskind hat sich allerdings gut ausgewachsen, denn mein Onkel Heini war später ein ziemlicher Brocken.

Dieses Foto vom Tauftag bekam der Papa ins Feld geschickt, sehen durfte er den Sohn erst viel später.

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Nach dem Krieg war der Sepp sofort wieder bei der AEG in Stellung, bildete sich aber in Abendkursen weiter und legte im Juni 1919 die Meisterprüfung als Elektroinstallateur- und Radiotechniker ab.

1922 wurde, immer noch in O7,4, die Tochter Elfriede geboren. Wieder eine Hausgeburt, wie damals üblich, aber diesmal war der Vater dabei – glücklicherweise! Denn dem Baby war die Nabelschnur um den Hals gewickelt, und die Hebamme verlor den Kopf: Der junge Vater hat eigenhändig die Strangulation verhindert und die Hebamme durch kräftiges Anbrüllen zur Räson gebracht. Elfriede wurde meine Mutter.
1926 erschien Tochter Luzie auf der Bildfläche, auch noch in O7,4.

1927 machte sich Sepp zusammen mit einem Kollegen selbständig, aber ... Hier will ich ihn selbst zu Wort kommen lassen: “Am 8.2.1928 Umzug nach (Neu-Ostheim) Dürerstraβe 16, Ladengeschäft, nachdem die Zusammenarbeit mit Johann Schmitt nach 13 Monaten verkrachte. Nach 5 Jahren Aufgabe des Ladens, Umzug nach Dürerstr.12” (aus “Wimars Notizbuch”, einem Büchlein, das der Lenz-Ahn Wimar gefunden und dann benutzt hatte, um die Geburten seiner Kinder und seine Geschäfte aufzuschreiben. Das wird wieder eine eigene Geschichte! Es hat später als eine Art Familienchronik gedient.)

Hinter Sepps dürren Worten verbirgt sich allerhand. Nach der Depression von 1929 wurde die Geschäftslage immer schlechter, 1933 fingen die ersten vorausschauenden Juden an, ins Ausland zu gehen. So auch die Inhaber einer Firma, für die mein Groβvater umfangreiche Installationsarbeiten gemacht hatte. Sie setzten sich ab, ohne vorher ihre Rechnung zu bezahlen. Von ihrem Standpunkt aus verständlich, aber meinen Opa hat es fast sein Geschäft gekostet. Danach bekam er einen Herzinfarkt, Wohnung, Werkstatt und Ladengeschäft in der Dürerstr. 16 mussten aufgegeben werden. Der Betrieb ging in der Dürerstraβe 12 in verkleinertem Maβe weiter. Anstatt mehrerer Gesellen und Lehrlinge (bis zu 8 Mitarbeiter), und dem Ladengeschäft, hatte er nur noch maximal drei Mitarbeiter, d.h. zwei Lehrlinge und einen Gesellen.

Johanne machte von Anfang an die Buchhaltung. Kein Problem für sie, denn das hatte sie ja gelernt. Doch da die Kinder, der Haushalt und die Mitarbeiter auch versorgt sein wollten (sie wurden verköstigt, bekamen ihre Arbeitskleidung gestellt und gewaschen), waren Dienstmädchen nötig. Johanne hatte vor 1933 zwei, danach nur noch eines. Ihre sehr schönen langen Haare hatte sie sich schon in den 20er Jahren abschneiden lassen, denn die Aufsteckerei kostete Zeit, die sie nicht hatte, auβerdem versprach sie sich durch das geringere Gewicht der Frisur eine Verbesserung ihrer Migräne. Ihr Mann hat damals aus Ärger über die verlorene Haarpracht drei Wochen lang kein Wort mit ihr gesprochen.

Mein Groβvater schreibt weiter: “Nach vielem Auf und Ab im Geschäft: Zeit der politischen Verfolgung. Folge: Einzug zum S.H.D. (Sicherheitsdienst, Abteilung Luftschutz), Geschäft musste geschlossen werden.”
Das war kurz nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges. Zwischen 1933 und dieser Zeit hatte sich das Geschäft nie mehr ganz erholt, nicht zuletzt deshalb, weil der Sepp partout nicht in die NSDAP eintreten wollte. Daher bekam er keine groβen Installationsaufträge mehr. Nach dem Verlust des Geschäftes eröffneten sie im vordersten Zimmer der neuen Wohnung einen kleinen Laden für Elektroartikel, und Sepp reparierte abends nach dem Dienst Bügeleisen, Nachttischlampen und Radios.

Johanne versorgte ihre Leute nun allein, ohne Dienstmädchen. Das tat ihrem Wissensdurst aber keinen Abbruch. Sie hatte dauernd die Nase in einem Buch, lernte vor allem Sprachen und vergaβ darüber manchmal das Kochen. Ansonsten war sie peinlich genau mit einigen Eigenheiten. Man aβ bei Lenzens, wie in Deutschland vielfach üblich, immer kaltes Abendbrot, d.h. Johanne machte am Tisch belegte Brote für die ganze Familie. Sie hatte dabei stets mehrere Messer vor sich liegen, eines für die Butter, eines für Streichwurst, eines für Schnittwurst, eines für den harten Käse, eines für den weichen Käse…Wo sie das gelernt hatte? Keine Ahnung! Nur das Putzen der Bücklinge übernahm mein Groβvater: Er machte das ebenfalls am Esstisch, auf Zeitungspapier, auch nach dem Krieg noch, als ich schon auf der Welt war. Mich hat es immer fasziniert, wie er gut das konnte!

(Nachtrag: Im Anfang ihrer Ehe hatte der Sepp seiner Johanne ein zweibändiges Handbuch der Hauswirtschaft gekauft, denn sie hat ja das Wirtschaften bei ihrer Mutter wegen ihrer Arbeit nicht richtig lernen können. Das Wirtschaftsbuch gehörte nach Aussage meiner Mutter nicht zu Johannes Lieblingslektüre, aber zu meiner ! Es ist eine Quelle von Auskünften über das häusliche Leben um die Jahrhundertwende, und es stehen viele ausgezeichnete Rezepte darin. Aber das Drolligste sind die Bilder und Erklärungen über z.B. “das Bügeln und Falten von offenen Damenbeinkleidern”!)

Im Dritten Reich war Johanne trotz Zensur und Volksempfänger mit Einheitsprogramm immer bestens informiert. Sie hörte heimlich die verbotenen Sender, denn mein Groβvater hatte als Radiotechniker einen Apparat basteln können, der auch andere Wellenlängen empfing. Da war sie oftmals so empört, dass sie sich laut schimpfend am Wohnzimmerfenster aufbaute und den Passanten die neuesten Schandtaten der Machthaber berichtete.
In der Werkstatt im Kellergeschoβ, oder gleich im Keller, versteckte sie auch gelegentlich gefährdete Personen, nur für eine Nacht oder so, aber deshalb wäre sie trotzdem ins KZ gekommen, wenn die Sache aufgeflogen wäre – und die Familie gleich mit. Der Blockwart war glücklicherweise ein Spezi vom Sepp und tat keinen Mucks, bzw. schickte Vorwarnung, wenn er von einer Razzia Wind bekam.

Ihre Kinder hielt sie straff am Zügel. Bei Heini war das notwendig, denn er war eine rechte Rabauke. Ihr rutschte leicht die Hand aus, einmal rechts und links um die Ohren des Sünders, weswegen sie von ihrem Sohn und seinen Kumpels die ”Schlackertaste” genannt wurde. Aber der Erfolg war noch mehr als ein halbes Jahrhundert später “durchschlagend”, denn als mein Onkel mich in den 80er Jahren nach längerer Zeit mal wieder sah, wurde er bleich und stammelte entgeistert: “Ach Gott, die Johanne!”, … und behandelte mich danach mit merklichem Respekt.

Meine Mutter Elfriede war ein sehr braves kleines Mädchen, aber auch sie hat mir erzählt, dass sie ihre letzte Ohrfeige von Mutterhand noch mit 22 gefangen hat.

Die jüngste Schwester Luzie war ein Besen. Ein sehr aufgewecktes Kind, voll Widerspruchsgeist und dauernd auf der Suche nach etwas Neuem, das sie anstellen konnte. Einmal probierte sie das Kölnisch Wasser aus der Flasche auf dem Waschtisch: In der Marmorplatte sind heute noch die Flecken zu sehen, die der Alkohol da hineinfraβ, als sie das Zeug schnell wieder ausspuckte. Ein anderes Mal war Luzie wieder spurlos verschwunden (sie riss aus, wann immer sie konnte), die Familie in voller Aufregung, bis man auf den Hinweis eines Kunden die Dreijährige im Schaufenster des Ladens fand, wo sie den Passanten Gesichter schnitt. Im Alter von fünf Jahren verunglückte sie tödlich. Das kam so: Hinter den Wohngebäuden in der Dürerstrasse liegen groβe Terrassen, unter denen Garagen eingebaut sind. Es geht da gut ein Stockwerk in den sogenannten Autohof hinunter. Die Terrassen der einzelnen Gebäude sind durch eine übermannshohe Mauer getrennt, die man nicht so ohne Weiteres überklettern kann. Um von einer Terrasse auf die andere zu gelangen, stiegen deshalb die gröβeren Kinder, sich am Terrassengeländer haltend, vorn um die Mauer herum. Die Kleine wollte es nachmachen, fiel hinunter und starb am übernächsten Tag.

Durerstr 16 familien Lenz

Dürerstr. 16, vorn Heini, dahinter Johanne, Luzie (ihr einziges Foto), Sepp, Friedel, Cousine Erika, Tochter von Lina und Matjö Lenz hinter ihr.

Johanne liebte Tiere sehr, sie hatte fast immer eine Katze im Haus und dazu noch so manchen Pflegling, wenn die Eigentümer zeitweise eine Unterkunft für ihr Haustier brauchten. Auβer den diversen Muschis gab es da Lora, den Graupapagei, und Cora, die Neufundländerhündin, die monatelang blieben. Heinz Gutjahr, ein Kumpel ihres Sohnes, der im gleichen Haus wohnte, pflegte zu sagen, dass er in einem neuen Leben Katze bei Frau Lenz werden wollte. Eine von diesen lieben Tierchen bekam eines Nachts ihre Jungen im Kaffeewärmer auf dem Küchenschrank.

Ein Auto konnte die Familie sich nicht leisten, aber man hatte Fahrräder. So wurde an manchem Sonntag ein Ausflug ins Grüne unternommen. Die total unsportliche, aber elegante Johanne mit Hut und Pumps saβ sehr steif und etwas wackelig auf ihrem Drahtesel. Tja, und da geschah es eben, dass sie stürzte, und sich beim Fall einen Absatz abbrach. Das Rad hatte einen Achter, und konnte nur noch geschoben werden. Johanne musste laufen und schwebte, nach ihrer Gewohnheit nur mit der Fuβspitze auftretend, bis nach Hause, wo sie erst das Malheur mit dem abgebrochenen Absatz entdeckte. Von der Familie hatte keiner etwas darüber gesagt, die schoben nur, sich vor unterdrücktem Lachen biegend, hinter der schwebenden Johanne her. Ein andermal ist ihr ihre Eleganz aber ganz schlecht bekommen: Da hatte sie einen Strohhut mit groβen roten Mohnblüten aus Stoff auf, dazu ein weiβes Kleid. Leider gab es ein Gewitter, der schöne Klatschmohn war nicht farbecht, und das nette weiβe Kleid wurde rot gestreift…

Während des 2. Weltkrieges zog sich Johanne im Luftschutzbunker eine Tuberkulose zu. Sie war vor ihrer Verheiratung schon einmal in einem Sanatorium gewesen, wie aus einer Karte ihres künftigen Schwiegervaters an sie hervorgeht. Meine Mutter bekam durch die Pflege ebenfalls Tuberkulose, die ihr eine sogenannte Kaverne, eine Vernarbung in der Lunge, eintrug, aber von allein ausheilte. Sie erfuhr erst bei der obligatorischen Untersuchung vor ihrer Heirat 1947 davon.
Als Johannes Mann und ihre Kinder aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, war sie schon sehr schwer krank, aber keinesfalls wollte sie geistig unbeschäftigt bleiben. Sie las, was sie nur bekommen konnte. Die Besatzung durch die Amerikaner fand sie eher interessant und holte ihr bestes Englisch heraus, um sich mit Charlie, dem schwarzen guten Engel der Familie, unterhalten zu können (siehe Putzibam-Geschichte). Aber es war ihr nicht lange vergönnt, diese friedlicheren Zeiten zu genieβen. Eine Einweisung ins Sanatorium wurde von den Verwaltungsstellen zurückgewiesen: Man brauche die Plätze für jüngere Leute. Elfriede pflegte ihre Mutter bis zu ihrem Tod im August 1946.

Ihr letztes Weihnachtsfest war 1945, es gibt davon ihr allerletztes Foto, wo sie mit ihrer Tochter Elfriede (Friedel), dem amerikanischen Soldaten Charlie aus der Putzibamgeschichte und ihrer Schwiegermutter Luzie Lenz, geb. Knäpper, am Kaffeetisch sitzt.

Weinachten 1945

Ich habe immer noch das groβe Buch, in dem Johanne in ihrer letzten Zeit mit Vorliebe las: Den “Bildersaal der Deutschen Geschichte”, eine Sammlung von Stichen und Texten, von 1899. Auf der letzen Seite steigt strahlend das neue Jahr 1900 wie die Sonne über den Horizont herauf. Als Kind habe ich immer gern darin gelesen und die vielen schönen Bilder angeschaut – wie einst Johanne. Auf manchen Seiten finden sich heute noch Kaffeeflecke und auch ein paar Krümel, die sie dort zurückgelassen hat…

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